Die Kara-Lieder.

(vmtl. ehem. Teil der Lieder-Edda, Verfasser und Entstehungsdatum unbekannt) 


Das erste Kara-Lied. 

 

 

Hröngvith und Helgi Haddingia waren

Brüder und Berserker beide vor Zeiten.

Die Hadding-Herrscher hießen sie tapfer

im Kampfe gegen den König Olaf.

 

Der Held war Helgi – Hröngvith ahmte

die Leistung des Bruders lediglich nach.

Wann immer der Ylfing einen Schwertstreich

und anderes tat – er tat es gleich.

 

So fing nach der Fehde der forsche Helgi

am seichten See mit dem Seil einen Schwan,

um abends ihn auf dem Eisen zu braten.

Drauf haschte auch Bruder Hröngvith einen.

 

Da saßen sie am See und hielten

die Schwäne hart um den Hals gefasst,

drauf und dran, sie zu drosseln warn sie –

der Schwan des Helden schnatterte aber.

 

Kara:

„Lass mich leben, loser Bursche!

Ich heiße Kara, bin Halfdans Tochter,

doch möchte ich meinen Menschenleib dir

nicht offenbaren – nackt wär ich ja!“

 

Helgi:

„Und ließ ich dich leben, lieblicher Schwan,

und hießest du Kara, wärst Halfdans Tochter

und somit Walküre und wunderschön,

so musst du dich aber mir offenbaren!

 

Und folgst den Befehlen du, Vogel, nicht

und zierst dich und zeigst deine Zartheit nicht,

so fass und umfang ich dich fester sogar

und rupfe dir lebend die reizenden Federn!“

 

Kara:

„Ehe du aber unsanft mich rupfest,

so will ich selbst mein Gewand ablegen.

Ylfing, aber dich abwenden musst du,

denn nimmer darfst meine Nacktheit du schauen.“

 

Helgi:

„Nicht Asen noch Alben noch Ymirs Söhne

vermöchten solcher Mahnung zu folgen.

Wohl flögest du fort, sofern ich gehorchen

und meine Augen abwenden würde.“

 

Kara:

„Und muss ich den Myrkwid missen auf ewig,

so will nur einen Wunsch ich äußern:

Dein Bruder braucht meine Blöße nicht sehen,

befiehl ihm, sich zu entfernen, Helgi.“

 

Hröngvith erhob sich, ins Haus zu gehen,

entfernte dem Schwan die Federn lebend

und hoffte wie Helgi auf holde Magie –

doch Narben erhielt er und nacktes Geflügel.

 

Die Zauberin zog inzwischen das Kleid aus

und ward ein Mädchen, weiß und üppig,

und suchte, sein Gesicht zu bedecken

und auch mit den Händen die Eiben-Rune.

 

Doch schon umschlang der schäumende Jüngling

die runden Glieder der reinen Dirne,

bezwang und zähmt‘ sie beim züngelnden Feuer

und lag mit ihr dort in Liebe für Stunden.

 


Das zweite Kara-Lied.

 

 

Helgi und Kara verbrachten sieben Tage in Liebe. Am achten Tag rief das Heer der beiden Hadding-Könige ihn um Beistand an. Der Held Hromund war König Olaf zu Hilfe geeilt und streckte mit seinem verzauberten Schwerte Mistilteinn indes große Lücken ins Heer der Haddinge. In Helgis Abwesenheit schlich Hröngvith sich zur Walküre und sprach:

 

„Nun hast du Helgi dein Herz geschenkt,

und hast den Bruder hässlich verschmäht.

Lass mich denn Lust nun und Liebe kosten

und endlich die gleiche Begierde erfahren!“

 

Kara schrie und wehrte sich, aber Hröngvith hielt ihr das Schwert an die Kehle, indes er sich an ihrem Leibe gütlich tat. Dann ging er zum Brünnenthing, um wie Helgi gegen Hromund zu kämpfen. Als jene aber den Zweikampf probten, da flog ein Schwan über das Schlachtfeld und sang:

 

„Missbraucht hat der Berserker die Brüdertreue,

ein schlagendes Mädchenherz schändlich zerdrückt,

Nachahmung und Eifersucht eint seine Brust,

wo Treue und Ehrfurcht wohl thronen sollten.“

 

Hröngvith hörte den Gesang und schämte sich dessen. Als Kara eben über den Heervernichter flog, rief er:

 

„Helgi! heb in die Höhe dein Schwert,

denn eben gleitet über dem Kopf dir,

zum Ragnarök rufend, der rohe Fenriswolf!

Schlachte den Feind, so schnell du kannst!“

 

Helgi trug keinen Argwohn wider seinen Bruder im Herzen. Als er die Worte vernahm, stieß er sein Schwert in die Höhe und verletzte seine geliebte Walküre tödlich. Hromund nutzte die Gelegenheit, da Helgi weinend vor Karas niedergestürztem Leibe kniete, und tötete ihn. Auch Hröngvith tötete der Kampfbaum und viele andere tapfere Haddinge. Als die Walküren des Nachts auf die Blutheide kamen, um die Einherjer auszuwählen, und die aneinandergeschmiegten Leiber Helgis und Karas sahen, wurden viele Tränen vergossen. Über den toten Hröngvith aber sagten sie:

 

„Verwehrt ist der Weg nach Walhall ihm nicht,

doch um seine untreue Arglist zu strafen,

wollen wir ihm die Wahrnehmung stehlen

und somit auf ewig die echte Freude.

 

Augen und Ohren fasst an, ihr Helmwesen,

stecht sie aus und stopft sie aus!

Zunge und Zinken und Zeugungsgewalt

schneidet ihm ab und schmort es im Feuer!

 

Ein Leben lang belog er sein Herz,

ehrliche Freude empfand er nie.

Er harrte gehetzt nur auf Helgis Erfolge –

nun soll ihm im Jenseits dasselbe blühen.“

 

So verstümmelten die Walküren den Waffentoten und der Göttervater, der Helgis Urahn war, ließ sie gewähren. Fortan saß Hröngvith zwischen den Kriegern in Odins Sälen und konnte sich der Klänge und Farben, der Lust und des köstlichen Mets nicht erfreuen.