Beschreibung

Seit seiner Ankunft auf dem Archipel Bañola Guartos, wo er versehentlich den Koffer einer Frau in Besitz nimmt, ist sich Michel sicher, ein Mädchen zu sein. Unter dem Namen Franziska schreibt er seinen Eltern und Freunden Flaschenpostnachrichten von seiner Äquatorinsel, auf der er mit einem Naturschutzteam die Flora und Fauna katalogisiert. Während die Eltern seine neue Identität schlicht ignorieren, versucht ihn sein Freund Lucas zur Vernunft zu bringen. Doch auch die Freundschaft zur einzig verständnisvollen Vroni beginnt zu bröckeln, nachdem er ihr von seinen Plänen erzählt, die verbotene Nebeninsel der Ur-Guartolesen zu betreten, um die dort endemische Azurschildkröte vor den Auswirkungen des Klimawandels zu retten.



Leseprobe

Hallo Vroni,

 

die Katastrophe ist eingetroffen – wie du es vorhergesagt hast!

Bitte ruf die Polizei, das Militär oder was man sonst noch rufen kann! Wir befinden uns in einer vom Meer durchfurchten Felsenhöhle östlich der großen Lagune im Norden der verbotenen Insel. Ich bin verletzt, wir haben weder Wasser noch Nahrung und die Insulaner suchen nach uns.

Nur eine Flasche haben wir und die sende ich dir jetzt … nein, lieber erst, sobald es dunkel ist, sonst kennen sie unser Versteck. Du bist die Einzige, die uns noch helfen kann.

 

Chaidó und ich sind heute Morgen bei rauer See aufgebrochen. Alles hat super geklappt – das Boot war lautlos, die Lagune schnell gefunden, der Sandstrand menschenleer und weitgehend frei von Vegetation. Und nicht nur das: Wir haben auf unserer Fahrt nicht weniger als vier Azurschildkröten überholt, die alle wie wir zur Lagune wollten.

Als wir näherkamen, sind mir auch gleich die Spuren im Sand aufgefallen, wo bereits Schildkröten unterwegs gewesen sein mussten. Mein Herzschlag hat mich fast taub werden lassen, aber gleichzeitig war ich auch guter Dinge, denn unsre Anreise war wirklich komplett unauffällig gewesen und es war, wie gesagt, weit und breit keine Menschenseele zu entdecken.

Chaidó hat mich, wie ausgemacht, so nah ans Ufer gebracht, wie er konnte, das Boot gewendet und Wache gehalten, während ich mit meinem Rucksack durchs seichte Wasser zum Strand gewatet bin, die Schildkrötenspuren bis zum Ende verfolgt und fieberhaft im schwarzen Sand nach den Eiern gegraben habe.

 

Aber es waren eben doch Insulaner da.

Hinter dem verdammt noch mal einzigen Versteck, das es hier am Strand gibt – einem nicht mal mannshohen anthrazitfarbenen Lavafelsen, der kaum zwei erwachsene Menschen verbergen könnte. Entsprechend hockten – als hätten sie das über Wochen ausgeheckt – zwei Halbstarke dahinter, unbewaffnet, aber dafür umso grimmiger. Ich hatte noch nicht mal eine Minute gegraben, als sie hinter dem Felsen hervorkamen. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen!

Ich wollte aufspringen und losrennen, aber mich hat’s sofort geschmissen. Ich hörte nur das wütende Gebrüll der beiden und auch Chaidós Schreie vom Boot her, aber ich kam kaum wieder auf und stolperte, als es mir endlich gelang, so lächerlich langsam und mit derart schwachen Beinen vorwärts, wie man es sonst nur in Albträumen tut. Als das Wasser eben meine Knie berührte, hatten sie mich bereits eingeholt. Einer packte mich schimpfend bei den Haaren, der andere brüllte Richtung Urwald.

Ich dachte: Jetzt bin ich tot. Chaidó kann mich nicht mehr retten. Der Typ hinter mir wird versuchen, mich zu vergewaltigen – bis er auf eine Überraschung stößt. Dann werden sie mich köpfen wie die anderen. Chaidó soll schauen, dass er wegkommt, sonst geht’s ihm wie mir.

 

Aber was, glaubst du, macht er? Springt aus dem Boot, kommt uns schreiend entgegen und fuchtelt mit einem Messer vor sich rum. Da weichen die beiden zurück, brüllen aber umso lauter – und plötzlich sehen wir die anderen. Mit Speeren in den Händen kommen sie herbei, dunkel, mit ockerfarbenen Gesichtern und nackt bis auf einen Gürtel um die Lenden. Immer wieder greift der Kerl nach meinen Haaren und immer wieder täuscht Chaidó einen Messerstich vor. Als sie etwas zurückweichen, wollen wir die Gelegenheit nutzen, zum Motorboot zu gelangen – aber genau aus der Richtung drängt der Rest der Meute auf uns zu. Wir haben es kaum geschafft, auch nur auf zehn Meter heranzukommen, da durchbohrt ein Speer die Luft und landet direkt im Boot – und wir springen ins Wasser und schwimmen in die entgegengesetzte Richtung, nur weit hinaus aufs rettende Meer, weg, weit weg von diesen blutdurstigen Wilden!

Wir hatten beide nicht viel an, aber der Rucksack auf meinen Schultern behinderte mich beim Schwimmen. „Leave it on!“, keuchte Chaidó, als ich mich von seiner Last befreien wollte – und prompt durchbohrte ein Speer sein Leder, der mir andernfalls das Rückenmark durchtrennt hätte.

 

Glücklicherweise können die Leute hier nicht schwimmen, irgendwann hatten wir eine Entfernung erreicht, in der wir vor Speeren sicher waren. Aber das Meer war wild und aufgewühlt und wir am Ende unsrer Kräfte. Instinktiv steuerten wir ein Felsenriff an, das die Lagune begrenzte und weit ins Meer hinausragte. Aber wir kamen kaum vorwärts, unsere Arme und Beine trieben kraftlos an den Seiten – und ich beklagte das Schicksal, dass ich ein halbes Jahr lang bei jeder Brandung ohne Mühe hatte schnorcheln können, nun aber kaum vorankam.

Doch plötzlich kam mir der Gedanke, dass das vielleicht mit dem Tauchen an sich beziehungsweise dem Umstand zu tun hatte, dass man den Kopf beim Schnorcheln unter Wasser hat.

Ich sagte Chaidó, dass wir tauchen müssten, und Chaidó probierte es und stellte fest, dass ich recht hatte und man so tatsächlich besser gegen die Brandung ankommt. Da ließ ich den Rucksack Rucksack sein, tauchte hinter Chaidó her und hatte einmal mehr das Gefühl, die Erlösung unter Wasser zu finden.

Irgendwann erreichten wir das Felsenriff, durch eine kleine Höhle konnten wir hineinschwimmen und freuten uns noch, weil wir hier vor den Eingeborenen sicher waren – wir hatten die Ausweglosigkeit unserer Lage noch nicht begriffen. Zumal wir in dem Moment ja gar nichts hatten als das nackte Leben. Nach einiger Zeit gelang es mir zwar, den Rucksack, der glücklicherweise vorbeigetrieben kam, am Speer zu erwischen und so wenigstens an unsere Wasserflasche und die Handtücher zu kommen – aber ich musste mit einem Seeigel im Fuß dafür bezahlen.

 

Nun hocken wir hier auf den scharfen, notdürftig mit Handtüchern gepolsterten Felsen, hören die Insulaner von der Lagune und den Klippen wild durcheinanderschreien und stehen Todesängste aus. Mein Fuß tut schrecklich weh, die Stacheln vom Seeigel sitzen tief im Fleisch, aber sie brechen ab, wenn man versucht, sie rauszuziehen. Das viele Blut hat einen Hammerhai angelockt – aber er schafft es Gott sei Dank nicht in die Höhle. Der Eingang ist zu schmal für seinen Kopf.

 

Ich schäme mich, wenn ich daran denke, was ich dir bei meiner letzten Flaschenpost alles an den Kopf geworfen habe – du warst ja auch nur eine Suchende, genau wie ich. Ich hatte mich über deine Bevormundung geärgert – aber du hattest mit allem Recht und ich hatte Unrecht.

Ich wollte ja auch gar keinen Kontakt zu den Ur-Guartolesen herstellen. Aber mal Hand aufs Herz: Wieso musste mich der Depp auch an den Haaren packen? Ich wär doch eine Minute später bereits auf dem Rückweg gewesen!

 

Jetzt geht die Sonne unter. Einen Tag haben wir überlebt.

Ich hoffe, wir überleben auch die Nacht. Und die folgenden Tage, bis endlich Rettung kommt.

 

Ich vertraue dir!

Franzi