Der Schatz der Nibelungen. Ein Sonettenkranz.

(veröffentlicht in „Versepen.“)

 

 

Erwachen.


Ihr lieben Brüder, geht es euch wie mir?
Zu Häupten tanzt Aurora in den Lüften,
umworben stets von schamlos süßen Düften
erblicket frische Landesfarben ihr!


Die Nymphen toben wieder mit Pläsier
im Schattenspiel von imposanten Klüften,
im kühlen Quell, benetzt bis an die Hüften.
Und nach der Weite packt euch jähe Gier!


Doch, Brüder! nein, ihr wollt ja gar nicht fort,
es fesselt plötzlich euch – wie mich – der Ort
gemeinsamer Kultur und gleicher Zungen.


Beklommen geben diese Huld wir kund,
wir wollen tiefer auf den deutschen Grund!
Kommt! suchen wir den Schatz der Nibelungen!

 

 


Der Wert des Landes.


Kommt! suchen wir den Schatz der Nibelungen!
Heroisch bäumen sich die Ufer auf,
im Westen geht des Stromes Donnerlauf
gerade bald, bald schwellend, bald verschlungen.


Von welchem Ort hat jenes Lied gesungen?
Bei Lôche türmet sich das Gold zu Hauf
und drang doch nimmer aus dem Rhein herauf.
Der Wert des Landes nur ist aufgedrungen.


Nur her zum Rheine also! Hurtig! Prompt!
Und wenn von Weitem ihr gelaufen kommt,
betrachtet die Kultur am Wegesrand!


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! Brüder! in der Ferne steht
der alte Birnenbaum im Havelland.

 

 


Ew’ge Herzensgüte.


Der alte Birnenbaum im Havelland
besteht noch immer hier, als ob der Herr
von Ribbeck nicht schon längst verstorben wär,
der manche Jahre hier statt seiner stand.


Und kommt von Norden, Brüder, ihr gerannt
und seht von Birnen ihn beladen schwer,
so hört ihr’s tuscheln: „Junge, wist’ ne Beer?“
Und eine Birne fällt in eure Hand.


Die leuchtet golden, duftet süß und fruchtig,
von sanfter Herzlichkeit zum Bersten wuchtig!
Ist dies nicht wahren Glückes Unterpfand?


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! In der Ferne reitet spät
der Schimmelreiter am verlassnen Strand.

 

 


Die Spukgestalt.


Der Schimmelreiter am verlassnen Strand
erscheint euch nachts wie eine Spukgestalt.
Die Sonne krankt, der Wind bläst rau und kalt,
die Dunkelheit schwappt mit dem Meer ans Land.


Da plötzlich kommt ein bleiches Tier gerannt,
ein wilder Schimmel ist’s, zerzaust und alt,
und trotz der Finsternis gewahrt ihr bald
den Mann darauf im flatternden Gewand.


Und fort ist er! Wie sich die Härchen kräuseln!
Gar schauerlich ist euch das hohe Säuseln
und Trappeln ans verwirrte Ohr gedrungen!


Nur hurtig, dass die Nacht vorüberweht!
Bedenkt auch – wenn ihr über Brücken geht –
des deutschen Spießertums durchtriebne Jungen.

 

 


Nötiges Chaos.


Des deutschen Spießertums durchtriebne Jungen,
mit Namen Max und Moritz, nah dem Stege
verbergen sich geschwind – und auch die Säge.
Und schon ist johlend ein Affront erklungen.


Der Schneider kommt zum Haus herausgesprungen,
war immer pflichtbewusst, devot und rege
und wird doch Opfer der verbauten Wege,
der nassen Kleider und Beleidigungen.


Ja, solches Opfer schmerzt und tut doch Not:
Zu rasch fährt Herzens- und Gedankentod
ins Labsal bürgerlicher Regelungen.


Herüber, wo des Rheines Wasser fließt!
Und kommt ihr aus dem Süden, Brüder! grüßt
die Schwabenschar auf ihren Wanderungen!

 

 


Die ewige Dummheit.


Die Schwabenschar auf ihren Wanderungen
versteinert vor dem Ungetier im Gras
und grübelt, grübelt ohne Unterlass
und bangt und glaubt sich selbst bereits bezwungen.


Der Lerchenschlag ist lange schon verklungen,
da heißt’s: „Das Ungehüer ischt a Has!“
Schon zieht die Meute weiter voller Spaß
und manches Lied wird unterwegs gesungen.


Ach, Brüder! ärgert euch nur niemals über
naive Geister, sondern lacht darüber,
sonst nimmt das Missvergnügen überhand.


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! In der Ferne wartet stet
die schöne Lau bei hohem Wasserstand.

 

 


Das Gedicht des Lebens.


Die schöne Lau bei hohem Wasserstand
erwartet ihren Mann im Abendlicht,
das sich im brodelnden Gewässer bricht.
Und auf dem Bauch ruht schützend ihre Hand.


Das größte Glück wölbt endlich ihr Gewand,
Familie heißt das göttliche Gedicht.
Da lacht das Herz, da lacht ihr Angesicht,
weil dies Poem nie seinen Meister fand.


Für immer muss Geschöpf der Schöpfung weichen.
Wer niemals schafft, wird nie der Gottheit gleichen!
Der Sinn ist zeitlos und doch unbekannt.


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! In der Ferne just entsteht
das Glasmännlein am schwarzen Waldesrand.

 

 


Ein kaltes Herz.


Das Glasmännlein am schwarzen Waldesrand
erscheint noch heute jedem Sonntagskind,
wenn es das rechte Sprüchlein weiß, geschwind.
Drei Wünsche werden ihm sogleich gesandt.


Und wählt es nicht die Wünsche mit Verstand
und ist es nur auf Geld und Macht gesinnt,
verschwindet jäh das Männlein, wie der Wind.
Dem Kind hat sich der Himmel abgewandt.


Doch, Brüder! steht auch hoch die Mondensichel
und schläft der Wald, geht nie zum schlimmen Michel!
Ein kaltes Herz nur wird mit Gier errungen.


Nur hurtig, dass die Nacht vorüberweht!
Im Osten wird derweilen trotz Gebet
der Tannhauser vom Venusberg verschlungen.

 

 


Die Güte der Götter.


Der Tannhauser, vom Venusberg verschlungen,
verlebt die schönsten Stunden an dem Ort
und kommt doch nimmer, nimmer davon fort
trotz frommer Bitten und Entschuldigungen.


Es ist dem guten Ritter nicht gelungen:
Der Papst verzieh ihm nicht sein Leben dort.
Jedoch als höheres Vergebungswort
sind Blüten bald aus seinem Stab gedrungen.


Seht, wie die Herzlichkeit der Schöpfer schwankt:
Die Heidengöttin gibt, was man verlangt,
der Herrgott zeigt sich höchstens jovial.


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! Dem Studentencorps entgeht
Mephisto im behaglichen Lokal.

 

 


Auerbachs Keller.


Mephisto im behaglichen Lokal
führt das betrunkene Studentencorps
mit Faustens Hilfe hinterlistig vor
und räumt zuletzt mit einem Knall den Saal.


Ihr kennt den Teufelstrank dort im Pokal
und trinkt ihn doch – wie jeder arme Tor.
Ja, Sünden bleiben Wein und Weiberflor,
doch auch des Lebens steter Sonnenstrahl!


Das Kleine schillert nur – das Große glänzt.
Moraltrompeter werden ausgegrenzt,
das Böse doch begeistert allemal.


Nur hurtig, dass die Nacht vorüberweht!
Nur hin zur nächsten Stadt! Dort, Brüder! dreht
das garstge Äpfelweib am Holzportal!

 

 


Wunderbarer Wahnsinn.


Das garstge Äpfelweib am Holzportal
ist freilich bloß ein ordinärer Knauf,
so scheint’s – denn drückt man seine Hand darauf,
erwacht sogleich die Hexe, macht Krawall


und poltert „Ins Kristall“ und „bald dein Fall!“
Fällt, Brüder! euch das Wunderbare auf,
so nehmt auch stets den Geisterspuk in Kauf
und führt kein enges Leben im Kristall!


Die Welt ist Wissen. Wollt ihr alles fassen,
seid ihr zuletzt dem Wahnsinn überlassen.
Real ist auch die Halluzination.


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Und kommt ihr aus dem Westen, Brüder! seht:
Im Walde Genoveva mit dem Sohn.

 


Heilige Gerechtigkeit.


Im Walde Genoveva mit dem Sohn
lebt dorten vor der Menschheit ganz versteckt
und wird von einer Hirschkuh zugedeckt
wohl bei der Nachtigallen erstem Ton.


Es ist ein wohlvertrautes Märchen schon,
dass eine gute Tat die andre weckt,
und wer sein Hemd mit fremdem Blut befleckt,
erhält die Strafe, den gerechten Lohn.


Seit jeher salbte man die eigne Hand
mit Öl im Wasser – und hat sich verbrannt,
sofern man jenes Öl ins Feuer goss.


Nur hurtig, dass der Tag vorüberweht!
Nur weiter! In der Ferne noch besteht
im Unterschlupf der Heinzelmännchentross.

 

 


Faulheit und Neugier.


Im Unterschlupf der Heinzelmännchentross
hat unauffindbar sich seit einst verkrochen.
War früher erst der Abend angebrochen,
dann ging ein Werkeln und ein Schleifen los.


Die Männleinschar zu Köln beschlug das Ross,
tat backen, brauen, nähen, putzen, kochen,
tat über Stunden, Tage oder Wochen
all das, was einen faulen Mann verdross.


Ach, weil – wie immer – aber die Vermählte
doch ihre schlimme Neugier nicht verhehlte,
war bald vorbei, was jeder einst genoss.


Nur hurtig, dass die Nacht vorüberweht!
Nur weiter! Euren Kopf zuletzt verdreht
die Loreley im hohen Felsenschloss.

 

 


Am Ziel.


Die Loreley im hohen Felsenschloss
kämmt immer noch mit ihrem Kamm aus Gold
ihr goldnes Haar, das duftig voll und hold
seit jeher schon um ihren Busen floss.


Doch, Brüder! blickt zum Rheine, dem Koloss!
Geschafft! Wir sind am Endziel, wie gewollt!
Lasst heben uns den Schatz zum Ehrensold,
wo Hagen ihn einst in die Fluten goss.


Was soll denn das? – Da ist nichts! Und dort auch nicht!
Auch näher hin zum Ufer bei dem Strauch nicht!

Ach, nirgends, nirgends blinkt es! Spott und Hohn!


Der Nibelungenschatz als deutsche Wiege?
Nur trübes Wasser, Einbildung und Lüge,
das ist der Goldschatz der Kulturnation.

 

 


Meistersonett.


Kommt! suchen wir den Schatz der Nibelungen!
Der alte Birnenbaum im Havelland,
der Schimmelreiter am verlassnen Strand,
des deutschen Spießertums durchtriebne Jungen,


die Schwabenschar auf ihren Wanderungen,
die schöne Lau bei hohem Wasserstand,
das Glasmännlein am schwarzen Waldesrand,
der Tannhauser vom Venusberg verschlungen,


Mephisto im behaglichen Lokal,
das garstge Äpfelweib am Holzportal,
im Walde Genoveva mit dem Sohn,


im Unterschlupf der Heinzelmännchentross,
die Loreley im hohen Felsenschloss:
das ist der Goldschatz der Kulturnation.