Beschreibung

Lass dir, lieber Leser, bitte nicht die Besinnlichkeit rauben. Weder von den Rentiergeweih tragenden X-Mas-Fans, noch weniger aber von den Weihnachtsmuffeln, die das Christfest in die Heuchler&Konsum-Schublade zu stecken versuchen – du weißt ja, wie ähnlich sich die beiden Parteien in ihrer Unfähigkeit, kindliche Glückseligkeit von Kitsch zu unterscheiden, sind.

 

Begleite denn lieber die kleine Silvia und ihre sprechende Puppe in den Wald, um noch kurz vor der Bescherung das Christkind aufzuspüren, stehe dem armen Richard angesichts des entsetzlichen Wilden Heeres während der Kriegsweihnacht 42 bei, verfalle der bezaubernden Nixe Juveline am Reschensee – und nutze die freie Zeit zwischen den Jahren, um tief in die gleichermaßen befremdlichen wie anarchischen Gesetzmäßigkeiten des kindlichen Spiels vorzudringen.

 

In zahlreichen liebevoll illustrierten Geschichten wirst du viele alte Bekannte, wie das Christkind, St. Nikolaus, die wilden Perchten sowie den Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht, wiedertreffen, aber auch den schwedischen Wichtel Tomte und Italiens wohl berühmteste Gabenbringerin – die Hexe Befana.



Illustrationen (Auswahl)


Leseprobe

„Wie komme ich denn jetzt wieder heim?“

Die Nixe versuchte, sich die Enttäuschung, dass ich sie verlassen wollte, nicht anmerken zu lassen – aber es war unüberhörbar, dass ihre Stimme wiederum gefror. „Auf demselben Weg, wie du hierhergekommen bist.“

„Ich will nicht wieder ins Wasser rein. Und überhaupt – was, wenn das Eis wieder und wieder einbricht und du bist dann schon weg?“

„Vielleicht begleite ich dich unterm Eis bis zum Ufer,“ sagte sie, „vielleicht aber auch nicht.“

Ich antwortete nicht. Die Angst vorm Krampus hatte sich durch mein Einbrechen im Eis relativiert – geblieben war die Angst vorm Erfrieren. Ich betrachtete die Fenster im Kirchturm. Sie waren unerreichbar.

„Wenn ich nur dort hinaufkäme …“

„Früher war dort wohl eine Glocke gehangen“, meinte die Nixe, wobei sie das Wort Glocke aussprach, als handelte es sich um etwas Ekliges. So wie unsereiner über, na, sagen wir, Kakerlaken redet. „Da hättest du leicht am Glockenseil hochklettern können. Aber die Glocke liegt jetzt drunten am Grund.“

„Das hätte mir auch nix genützt“, nörgelte ich, während die wohlbekannte Müdigkeit wieder von mir Besitz nahm. „Ich muss auf der anderen Seite ja wieder runterklettern können.“

Wir saßen einander gegenüber und grübelten. Gleichzeitig stellte ich fest, dass mir das Grübeln mit zunehmender Unterkühlung immer schwerer fiel. Ich wollte schon kleinbeigeben und die Nixe, deren Name ich noch immer nicht kannte, bitten, mich in Herrgotts Namen doch durch das Eiswasser nach draußen zu bringen, als sich ihre blauen Lippen triumphierend in die Breite zogen. „Meine Haustiere könnten dir helfen!“

„Deine Haustiere?“, wiederholte ich. In meinem Kopf sah ich das Mädchen mit zwei taucherhelmtragenden Hunden durch die Tiefen des Sees gleiten. Ich wollte eine Frage anfügen, doch die Nixe machte einen Kopfsprung ins Wasser und ließ mich allein.

Ich rief nach ihr, glaubte schon, sie hätte mich zum Narren gehalten, versuchte, soweit es der Balken unter mir zuließ, mich mit Bewegungen warmzuhalten – da tauchte sie aber schon mit ihren Haustieren auf. Es waren zwei unförmige, weinrote Batzen, die wie übergroße schmelzende Kegelkugeln aussahen.

„Das hier sind Ungustl und Zwiderwurz, zwei echte Rasseanemonen aus dem Schwarzen Meer“, erklärte die Nixe, wobei sie ihre beiden Batzen wie junge Karnickel auf dem Arm hielt und mit der Nase streichelte.

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte nicht die Fantasie, mir auszumalen, wie mir Ungustl und Zwiderwurz würden helfen können. 

„An Land sind sie etwas scheu“, fuhr sie fort. „Aber du solltest sie mal unter Wasser sehen – da sind sie kaum wiederzuerkennen.“

„Aber … aber“, bibberte ich. Ich wusste, dass mich bald wieder der Schüttelfrost übermannen würde.

„Wenn du sie mit der Unterseite auf den Stein drückst, saugen sie sich fest“, unterbrach das Nixele mein Gestammel. „Und wenn du den Finger in die Löcher hier oben steckst und ein wenig kitzelst, lassen sie wieder los. So kannst du ohne Probleme zum Fenster kommen.“

Es schüttelte mich bei der Vorstellung, die Rasseanemonen anlangen, geschweige denn kitzeln zu müssen. Gleichzeitig hatte ich keinen Zweifel, dass mir das Hinaufklettern gelingen würde – ich, der ich seit ich laufen konnte, auf Felswänden kraxelte wie eine junge Gams.

Mit einem abscheulichen Schmatzen drückte meine Retterin die erste Anemone etwa auf Oberschenkelhöhe gegen die Mauer und reichte mir die zweite. Ich setzte einen Fuß auf den unfreiwillig pappenden Ungustl und wunderte mich, dass er keineswegs schleimig war, sondern einen erstaunlich sicheren Tritt bot. Mit einer Hand stützte ich mich gegen die Mauer, mit der anderen Hand drückte ich Zwiderwurz dagegen.

„Das war zu hoch“, rief mir die Nixe zu.

Ich stieg unbeirrt weiter. Dann erst merkte ich, was sie meinte. Von hier aus gelang es mir nicht, die erste Anemone mit dem Finger zu erreichen, selbst dann nicht, wenn ich mich breitbeinig auf der Anemone niedersetzte. Doch ich wollte nicht, dass sie recht hatte – selbst in der größten Not war ich nicht ansatzweise kritikfähig. Stattdessen zog ich meinen Schuh samt Socken aus, steckte nicht ohne Grausen den großen Zeh in die Anemonenoberseite und bewegte ihn. Und schon erbebte Ungustl und ließ die Mauer los. Ich zupfte die Anemone vom Zeh, kam vorsichtig wieder in den Stand und presste sie – grad zum Fleiß – wiederum in einigem Abstand gegen die Mauer. Dass die Nixe mit offenem Mund unter mir stand und staunte, machte mich glücklich, zumal mir durch das Klettern erstmals wieder warm wurde.

Bald schon erreichte ich das Fenster und wir beide jubelten.

„Also dann …“, sagte ich, nachdem ich den Schuh aus meinem Mund genommen und auf die Eisfläche geworfen hatte. „Servus, gell!“

Das Dorf lag unter einer mondbeschienenen Daunendecke, doch es schlief nicht. Kerzenschimmer und Stimmen drangen herüber. „Ich lass deine Haustiere einfach auf dem Eis liegen, ja?“

„Ich kann sie dir ausleihen“, rief die Nixe. „Dann kannst du mich hier besuchen, also, wenn das Eis dicker ist! Du musst sie aber ins Wasser tun, sonst sterben sie nach neun Stunden!“

„Ich lass sie hier!“, rief ich zurück, indem ich die erste Anemone mit dem Fuß an das Zifferblatt beförderte und mich hinabließ. Als ich schon so weit unten war, dass ich gerade noch durch das Fenster in den Kirchturm hinuntersehen konnte, rief sie mir ein letztes Mal zu.

„Dann werden wir uns nicht wiedersehen!“

„Pfiat Gott!“, rief ich hinunter, aber ich erhielt keine Antwort mehr.

Nach kurzer Zeit erreichte ich die Eisfläche. Dieses Mal erfüllte sie mich mit Grausen. So schnell und vorsichtig ich konnte, zog ich meinen Schuh an. Ich war gerade zwei Schritte Richtung Ufer getreten, als es schon wieder unter mir knirschte. Mir fielen die beiden Anemonen ein und die Möglichkeit, sie im Falle eines erneuten Einbrechens im Eis als Haltegriffe zu verwenden. Kurzum packte ich sie und schob mich vorwärts. Bald knirschte das Eis nicht mehr, bald konnte man den Boden sehen, bald konnte ich den gemessenen Schritt aufgeben und mich beglückwünschen, überlebt zu haben.