Beschreibung

 

Ein Mörder unter den Gästen.

Die Gäste eingepfercht in ein Hotel.

Das Hotel umringt von Höhlenlöwen.

Die Höhlenlöwen im Herzen des Eiszeitparks.

Der Eiszeitpark unter der Kontrolle einer einzigen Person:

Der Leiche.



Leseprobe

Der Tabak knisterte, als sich die Glut in die Zigarette fraß. In weniger als einer Minute, das waren exakt zwölf Zuckungen seines Mundwinkels, würde sie vollständig in Rauch aufgegangen sein.

Kowalski war kein Freund von Überraschungen. Ein Leben im Labor war nicht anders als ein Leben vor dem Bildschirm. Alles theoretisch, alles bloße Schablone der Wirklichkeit. Es befriedigte ihn nicht und manchmal, wenn er mit seinen Freunden am Tresen ihres Stammausschanks Myśliwska lehnte, träumte er grölend vom großen Durchbruch – und wusste doch, dass er sich selbst betrog.

Mit einer nachlässigen Geste schabte er die giftigen Rückstände des Methanamids von seinen Fingernägeln, ehe er die Zigarette ausdrückte. Neues Futter für die alte Yucca, einen mexikanisch-eurasischen Hybriden, der gemächlich unter Hunderten von Zigarettenstummeln dahinstarb. Der schäbige Vorhof des Labors stank vor Rauch und Kowalski öffnete die Glastür. In einem anderen Job, einem anderen Leben hätte der Vorhof ein behaglicher Wintergarten sein können, aber was ging ihn das an?

Gleich würde Robertsson aufkreuzen. Kowalski hatte seine Anrufe schon viermal an diesem Nachmittag weggedrückt – ihm war nicht nach Sprechen zumute. Aber er wusste, dass Robertssons feines Gespür nicht zu hintergehen war.

Kowalskis Mund zuckte, vier braune Fingerkuppen drehten mechanisch eine neue Zigarette.

Aber es war unmöglich, dass der Professor ahnen oder auch nur denken konnte, was er dort in den Katakomben der Laborräume, dem sogenannten Seziersalon, entdeckt hatte.

Hätte Kowalski seine geliebte Piotra noch gehabt, er hätte sie angerufen und hierher bestellt. Er hätte den guten alten Lada Granta schon von weitem gehört, seinen Flickenkittel, der lange schon Teil seiner abgenutzten Alltagskleidung geworden war, anbehalten, sich selbst ans Steuer gesetzt, um mit ihr auf- und davonzufahren. Nach Finnland vielleicht. Oder nach Usbekistan. Nur weg von hier.

Kowalski strich mit der Glut über die spröde Haut seines Mittelfingers, die Stelle, wo vor wenigen Jahren noch der Verlobungsring gewesen war. Die Haut schmolz dahin, aber es zuckte kein Schmerz über seine Lider. Nichts, rein gar nichts konnte ihn noch außer Fassung bringen.

Von dieser einen Sache abgesehen.

 

„Was faseln Sie da?“

Robertsson wedelte den Laborpraktikanten, der ihn eingelassen hatte, wie eine lästige Fliege fort. Kowalski fuhr herum. Es war das erste Mal, dass er Robertsson in Levis und Rollkragen sah. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, um sein freudloses Feixen zu kaschieren. Mit dem hängenden Augenlid, dem Überbleibsel einer falschen Phosphordosierung vor siebenundzwanzig Jahren, sah sein Chef wie ein betrunkener Steve Jobs aus.

Was nun mit Sicherheit folgte, war die altbekannte Ansammlung von Ermahnungen, Belehrungen und Androhungen einer Kündigung … oder etwa nicht?

Kowalski wusste, dass die Karten neu gemischt waren, dass er heute eine Macht besaß, die keineswegs zu unterschätzen war – so gern er auch darauf verzichtet hätte. Robertsson erkannte das neue Machtgefüge, sowie er dem greisenhaften Mittvierziger in die Augen sah.

Im bläulich verrauchten Licht, das durch die Dachscheiben fiel, trieben ganze Schollen aus Staub, wild und orientierungslos, doch ohne je zu kollidieren – ein ebenso lachhaftes wie ungelöstes chemisches Phänomen. Robertsson blies hinein und blickte dem wirbelnden Schmutz hinterher. 

„Ist es …“, er verstummte so rasch, wie er begonnen hatte. Seine Ahnungen waren Unsinn. Geradezu wahnwitzig. Kowalski fütterte die Yucca mit einem weiteren Stummel, ohne dem stotternden Professor zu Hilfe zu kommen. Der staubige Wirbel der Gezeiten umfloss die beiden Chemiker, die allein ihre Halsstarrigkeit verband.

„Sprechen wir vom … vom unteren Geschoss?“, fuhr Robertsson fort, gleichwohl Kowalski genau genommen noch gar kein Wort gesprochen hatte. Sein Gegenüber wandte sich ab. Er wusste nicht, was er antworten sollte, und wollte, bevor er sich entschied, keineswegs von einem falschen Wimpernschlag verraten werden. Er schloss die Glastür, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Als er sich umsah, war Robertssons Gesicht erblasst. „Sie wollen doch nicht sagen … Sie meinen doch nicht etwa … den Seziersalon?“

Es war zu spät, alles abzustreiten. Zu spät, die Entdeckung vor sich selbst zu leugnen. Kowalskis Mundwinkel zuckten zu wild. Die braunen Fingerkuppen vergruben sich zu tief in seinem Tabaksbeutel. Ein Praktikant rief von weitem Robertssons Namen, aber niemand beachtete ihn.

Piotra, dachte Kowalski. Oh, Piotra. Dich jetzt in die Arme schließen, die Nase in deinem Nacken versenken zu können …

Robertsson zupfte an seinem Rollkragen und seine Finger knackten dabei. „KP 31?“

Kowalski sah ihn lange an, sah die letzte Hoffnung in den Augen des Professors flackern – aber er musste ihn mit einem Blick auf den verdreckten PVC-Boden enttäuschen.

Weißer als sein Doktorkittel war Robertssons Teint, sein rechtes Auge war das erste Mal seit siebenundzwanzig Jahren in voller Größe zu sehen. Als er sprach, war das Zittern seiner Zähne zu hören: „KP … 34?“

 

Kowalski nickte und der Professor stürzte ohnmächtig zu Boden.